Janet Lewis: Draußen die Welt

  Ein Bollwerk gegen die ethische Wildnis

Zwei Morgen flachen Wiesenlandes im ländlichen Kalifornien zwischen dem Küstengebirge und dem südlichen Ende der Bucht von San Francisco bewirtschaftet die Familie Perrault am Ende der 1920er- und Beginn der 1930er-Jahre. Ihr Mittelpunkt und unumstrittene Herrin über Küche, Haus und Garten ist Mary Perrault, eine geborene Schottin und späte Mutter Anfang 50. Sie kümmert sich um die vier Kinder von der pubertierenden Melanie bis zum dreijährigen Jamie, engagiert sich in der Gemeinde und hat für alle stets ein offenes Ohr und einen Platz an ihrem Tisch. Ihre Aufgaben erfüllt sie mit Fleiß, Disziplin, fröhlicher Gelassenheit und Freude:

Es herrschte ein großer Friede in ihrem Herzen, Freundschaft, Geborgenheit, Zufriedenheit. (S. 22)

Ein Vorbild an Resilienz
Stabilität verleiht der warmherzigen, lebensklugen und selbstreflektierten Frau ein innerer moralischer Kompass. Statt Ermahnungen und Strenge sind Vorbildhaftigkeit, Liebe, Sicherheit und Geborgenheit Grundpfeiler ihrer Erziehungsarbeit. Vertrauensvoll gewährt sie ihren Kindern Freiheiten, schreitet selten ein, freut sich über ihre Selbstständigkeit und lässt Melanie ihr Glück außerhalb der Farm suchen.

Dabei ist Mary keineswegs naiv und blind für äußere Bedrohungen und fürchtet „eine Gesellschaft ohne gemeinsame Werte, eine ethische Wildnis, erwachsen aus der Wildnis der Natur“ (S. 362). Denn die Katastrofen häufen sich: eine Verkehrstragödie, die Auswirkungen der großen Depression 1929, menschengemachte Umweltprobleme, ein Kapitalverbrechen und die Lynchjustiz eines entfesselten Mobs. Ihnen setzt sie entgegen, was in ihrer Macht steht: die Atmosphäre ihrer Küche, „warm, vertraut und geborgen.“ (S. 364)

Spülen muss man trotzdem
Die US-Amerikanerin Janet Lewis (1899 – 1998) schrieb neben Lyrik auch eine Trilogie über historische Justizfälle und das 1943 erschienene Against a Darkening Sky. Während der Originaltitel die Gefährdung des Perraultschen Mikrokosmos thematisiert, hebt der ebenso gut passende deutsche Titel Draußen die Welt auf Marys Bestrebungen ab, durch Integrität, Empathie und Zuverlässigkeit ein Bollwerk gegen eben diese Stürme zu errichten. Dazu passen das Geschirrtuch auf dem sehr gelungenen Cover und Marys Gedanken bei der Küchenarbeit:

Trotz Krieg, Mord und plötzlichem Tod, dachte sie bei sich, spülen muss man trotzdem. (S. 361)

© B. Busch

Gegen den Lärm der Welt
Dass der Roman erst 80 Jahre nach seinem Erscheinen ins Deutsche übersetzt wurde, erstaunt mich sehr. Es mag daran liegen, dass er – anders als zunächst von mir erwartet – nur am Rande die großen Themen der Weltwirtschaftskrise wie Bankencrash, Arbeitslosigkeit und Verelendung beschreibt. Stattdessen ist es ein Buch über eine Frau, die den Krisen der Welt gelassen und mit den ihr zur Verfügung stehenden Waffen entgegentritt, sich nie beklagt und schlechte Nachrichten nur ungern ins Haus lässt:

Sie wünschte alle Zeitungen von ganzem Herzen zum Teufel. Eine Zeitung mit ihren riesigen Schlagzeilen auf dem Tisch war wie jemand im Raum, der die ganze Zeit hysterisch kreischte. (S. 362)

Eine große Beobachterin
Neben Mary Perrault steht im Mittelpunkt des Romans die Natur, die die Lyrikerin Janet Lewis sehr blumig und ausführlich beschreibt, ausgezeichnet übersetzt von Sylvia Spatz: Landschaft, Pflanzen, Wetterereignisse, den Wechsel der Jahreszeiten, Kaninchen, die Bucht von San Francisco und vieles mehr.

Für mich sind Draußen die Welt und seine Verfasserin Janet Lewis eine echte Entdeckung. Geduldigen Leserinnen und Lesern empfehle ich den ruhig erzählten modernen Klassiker, der ohne große Emotionen und dramatische Wendungen auskommt, als angenehm entschleunigende Lektüre.

Janet Lewis: Draußen die Welt. Aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Spatz. dtv 2023
www.dtv.de

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